Die visuellen Geister von Tonbandschnipseln

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Zuzanna Solakiewicz kehrt in ihrer filmischen Hommage an die Musik von Eugeniusz Rudnik das Verhältnis von Ton und Bild um. Entstanden ist ein experimentelles Stück über die Geheimnisse des materialisierten Geräuschs: 15 Stron Świata.

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Der Dokumentarfilm 15 Stron Świata (15 Corners of the World, 2014) von Zuzanna Solakiewicz ist ein heimlicher Experimentalfilm. Die Interviewsequenzen mit dem polnischen Pionier der elektroakustischen Musik, Eugeniusz Rudnik – einem experimentellen Komponisten, Toningenieur und Klangkünstler, der seit über 50 Jahren mithilfe von analogen Tonbändern produziert – tauchen lediglich als vereinzelte Episoden auf; der Löwenanteil des Films besteht aus der Interpretation des Tonmaterials. Die Dokumentarfilmerin Solakiewicz gewichtet so Information und Interpretation neu und beschreitet mit ihrem neuen, bisher längsten Werk einen experimentelleren Weg als mit den vorhergehenden Regiearbeiten Jorcajt (2012), Tak, to jest (2009) und Kabaret Polska (2008). Sie streut die klassischen Dokumentarfilmsequenzen eher als Illustration ein, als Rahmen der durch das musikalische und visuelle Material vermittelten Atmosphäre. Und so ist dieser Film ein Erlebnis, auf das man sich einlassen muss. Ein Erlebnis, das durch das bewegte Bild auf den Ton verweist, diesen intensiviert und zu einem neuen Hören hinführt. Gerade durch den Bruch der Harmonie von Bild und Ton gewinnt letzterer an Gewicht. Wenn etwa eine Person auf der Treppe einer Unterführung in die Luft springt und bei der Landung ein knallendes Geräusch erklingt, wiegt sich der Zuschauer in Sicherheit. Dann aber verselbstständigt sich das Knallen, und die Person wirkt plötzlich wie ein hilflos in die Luft springender Hampelmann, der der akustischen Dimension seiner Wirkungsmacht beraubt wurde. Solche Brüche werfen das Publikum auf die Frage nach der Bedeutung des Hörsinns und der Akustik zurück. Wie viel Identität steckt in Geräuschen und Tönen, und was geschieht, wenn diese manipuliert werden? Rudniks Antwort auf die Frage, was er im Spektrum der menschlichen Stimme höre, lautet: „Alles. Gott.“ 15 Stron Świata aber ist weniger am konkreten Antworten als am Aufwerfen von Fragen und Zweifeln interessiert. Diese Herangehensweise hat auch die Kritiker am Filmfestival in Locarno überzeugt und die Auszeichnung als bester Film in der Sektion „Semaine de la critique“ eingebracht.

Hauptfigur Ton

Nicht nur in der Gewichtung von dokumentarischem und interpretativem Material schlägt Solakiewicz mit 15 Stron Świata eine neue Richtung ein. Auch die Reihenfolge von Bild und Ton kehrt sie um. Solakiewicz geht nicht wie üblich von einem Rohschnitt des filmischen Materials aus, für das eine Tonspur komponiert wird. Statt die Musik als den sekundären Part des audiovisuellen Erlebnisses zu behandeln, fokussiert sie ganz auf die auditive Ebene. Inspiriert dazu wurde sie von Eugeniusz Rudnik, der die Musik zu ihrem letzten Film, Jorcajt, beisteuerte. Wie Solakiewicz selbst sagt, hatte sie vorher keinen Bezug zu dieser Form der experimentellen Musik, und so hat sie für den aktuellen Film auch viel aus der Arbeitsweise Rudniks geschöpft. Solakiewicz komponierte ihren Film zunächst als akustisches Gerüst, fügte verschiedene Stücke und Fragmente von Rudniks Tonmaterial zu einem Ganzen zusammen. Erst in einem zweiten Schritt stellte sich die Frage, wie dieses Gerüst durch Filmmaterial ergänzt werden könnte. Solakiewicz wollte die Musik nicht einfach illustrieren, sondern Vorschläge zu deren Interpretation liefern. Dabei griff sie oft auf Aufzeichnungen von Eugeniusz Rudnik selbst zurück. „Rudnik hat in der Beschreibung seiner Musik oft visuelle Metaphern zu Hilfe gezogen“, sagt die Regisseurin zur Auswahl der Bildmotive. Mit den 23 Kilogramm Notizmaterial, das Solakiewicz von Rudnik zur Verfügung gestellt bekam, hatte sie schließlich Ideen genug. Erstaunlich ist auch, wie sich Ton und Bild gegenseitig ergänzen und in eine neue Dimension des Sehens von Geräuschen leiten. Wer zum Beispiel hat zuvor schon einen Wohnblock klingen hören oder den weich-kratzigen, korallenartigen Teppich anorganischer Musik gesehen?

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Die Gewichtung von experimenteller Interpretation und dokumentarischem Material führt zu neuartigen audiovisuellen Erfahrungen. Der Fokus auf das Experimentelle lässt sich in Zusammenhang mit Rudniks Schaffen stellen, verweist auf das kompromisslose Eintauchen in die akustische Dimension. Der informative Charakter eines Dokumentarfilms wird dabei aber fast völlig unterschlagen. Wer Anhaltspunkte zum experimentellen Musikschaffen in der polnischen Volksrepublik oder dem Lebenswerk von Eugeniusz Rudnik erwartet, wird von diesem Film enttäuscht. Schade, denn gerade die avantgardistischen Tonexperimente aus Warschau sind größtenteils in Vergessenheit geraten. Doch auch hier provoziert der Film mehr Fragen, als er Antworten zu liefern versucht. Dies ist insofern legitim, als Solakiewicz niemals den Anspruch hatte, einen informativen Film über Rudnik oder die experimentelle Musikszene zu drehen. Ihr geht es um das Produkt, um das, was viele für unverständlichen Lärm halten. Der Verweis auf Rudniks Produktion von Filmmusik würde in diesem Zusammenhang schon fast wie ein Zugeständnis an die Verwertbarkeit kreativen Schaffens wirken. Und dennoch brächte ein Blick in die Geschichte des Experimentierens mit Geräuschen und elektronischer Musik in Polen Faszinierendes zutage.

Das Experimentalstudio des Polnischen Radios in Warschau, in dem Rudnik seit 1958 arbeitet, steht im Mittelpunkt der Tüfteleien mit elektoakustischem Material. Dort wurden neben Stücken für den Radiosender auch eigenständige Tonwerke komponiert. Damit stellt das Studio eine kreative Plattform für Auftragsarbeiten und künstlerische Entfaltung gleichermaßen dar. 1957 im Zuge des Tauwetters gegründet, ist die Institution außerdem ein Kontaktpunkt experimenteller Komponisten und technischer „Performer“ aus Ost und West. Rudnik selbst ist etwa auch beim Westdeutschen Rundfunk in Köln tätig. Die Musiker arbeiten mit Magnetband, Schere und Klebstreifen; Tonaufnahmen werden rückwärts abgespielt, verlangsamt oder beschleunigt; Geräusche verzerrt, repetiert und überlagert; organische mit anorganischen, elektronisch erzeugten Klängen kombiniert. Rudnik verwertet mit Vorliebe „Abfall“: Fragmente von Aufnahmen aus Radiosendungen, die nicht mehr gebraucht werden. Insgesamt komponiert er über 300 Stücke im Bereich der Filmmusik, darunter etwa für Science-Fiction-Filme. Daneben erstellt er autonome Klangkunst, ars acustica genannt.

Heute ist das Studio offiziell längst außer Betrieb. Der bald 82-jährige Pionier Rudnik arbeitet allerdings immer noch dort, geistert zwischen den technisch längst überholten Apparaturen herum. Das Instandhalten der analogen Maschinerie ist ein ständiger Kampf um finanzielle Mittel; schon lange liegt der Fokus allein auf der digitalen Herstellung von elektronischer Musik.

Materialitäten

Obwohl Zuzanna Solakiewicz 15 Stron Świata auf 16 mm Filmmaterial drehte und sich damit der digitalen Normalität der Filmproduktion erwehrte, sind die Parallelen zum Schaffensprozess Rudniks begrenzt. Wo dieser zufällig aufgesammelte Schnipsel collagiert, musste Solakiewicz sich zusammen mit Kameramann Zvika Gregory Portnoy genau überlegen, welche Szenen sie filmen wollten – schließlich sei das Material ziemlich teuer und werde zudem nicht mehr produziert, so die Regisseurin. Rudnik hingegen scheint die Erweiterung seiner Klangwelten um die materielle Komponente ohne jeden utilitaristischen Gedanken zu zelebrieren. Das auf Magnetband gebannte Tonmaterial offenbart seine gegenständliche Form, wird berührbar. Darüber hinaus erklärt er im Film die räumliche Fixierung von Tönen mithilfe von Koordinaten. So lässt sich eine Komposition aufs Blatt übertragen, dreidimensional sichtbar machen. Diese Übertragungsarbeit ist wohl ein Produkt der institutionellen Auflage, für Kompositionen eine Partitur abzuliefern – bei elektronisch erzeugter Musik kein leichtes Unterfangen. Umgekehrt lässt sich mit Rudniks Koordinatensystem aber auch jeder beliebige Gegenstand in Musik transponieren – womit wir wieder beim klingenden Wohnblock wären.

15_corners_photos_promotion_3_770Wenn der Film auch wenig dokumentarisches Material liefert und nichts erklären will, sprechen die unkommentierten Bilder aus dem Studio doch auch für sich. In den wenigen Szenen, die der Person Eugeniusz Rudniks gewidmet sind, gewinnt das Publikum einen berührenden Einblick in die Arbeitsweise dieses routinierten Musikingenieurs, der dem Wandel etwas hilflos gegenübersteht. Gerade durch die unspektakulären Ausschnitte aus dem Arbeitsalltag – und durch die gegenseitige Intensivierung von Ton- und Bildmaterial – beginnt die Zuschauerin, mit den Ohren Rudniks zu hören, analysiert mit ihm zusammen die endlose Repetition einer Radioansage, sucht nach Nuancen im Stimmtimbre. Beobachtet, wie Rudnik aus der gebetsartigen Starre des Lauschens in Bewegung gerät und mit präzisen Handgriffen ein Band wechselt. Oder schaut mit ihm zusammen auf die 15 Seiten der Welt, die sich hinter einem einzigen akustischen Panorama auftun.

Der titelgebenden 15 Seiten der Welt bedient sich Rudnik zur Veranschaulichung eines Stücks aus 15 unterschiedlichen Tonspuren. Diese bilden trotz der Unterschiedlichkeit eine Einheit, ganz so, als ob man die Welt entsprechend aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten würde und dennoch immer das Ganze im Blick hätte. So facettenhaft wie diese Seiten präsentiert sich letztlich auch der Film selbst, der Möglichkeit nach Möglichkeit aufblättert und trotzdem alle Optionen gleichzeitig stehen lässt. Wer den ausgelegten Fährten in das Reich der Geräusche folgt, sieht seine perzeptorischen Gewohnheiten hinterfragt. Das Spiel mit Parallelität und Bruch gibt dem Film die nötige Dynamik, um nicht bloße Illustration der Musik zu sein, sondern die Sinne produktiv herauszufordern.

 

15 Stron Świata (15 Corners of the World), Zuzanna Solakiewicz, PL/DE 2014, 79 Min.

 

15 CORNERS OF THE WORLD official trailer from ENDORFINA studio on Vimeo.

 

Am 5. Oktober 2014 stellte Zuzanna Solakiewicz ihren Film am Zurich Film Festival vor und ging im anschließenden Q&A auf den Entstehungsprozess ein.

15 Stron Świata wird im November 2014 im Kino Xenix in Zürich zu sehen sein: Do 13.11. – Sa 15.11, Mo 17.11. – Mi 19.11. > 17.15 Uhr; So 16.11 > 16.15 Uhr

Weitere Informationen zum Warschauer Experimentalstudio: http://post.at.moma.org/themes/14-polish-radio-experimental-studio-a-close-look

 

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