Public Art in der Trabantenstadt? Was passiert beim Zusammentreffen der Bewohner der Peripherie Moskaus mit zeitgenössischer Kunst?
Das Ausstellungsprojekt von Marina Zvjaginceva und Jurij Samodurov „Dom chudožnika Južnoe Butovo / Spalnyj Rajon“ („Haus des Künstlers Južnoe Butovo / Schlafstadt“) gehört zum Rahmenprogramm der 4. Moskauer Biennale für Zeitgenössische Kunst. Und doch dürfte es in vielen Fällen die einzige Berührung sein, die die Besucher dieser Ausstellung mit dem Großereignis der nationalen und internationalen Kunstszene haben. Vom Zentrum Moskaus ist der Stadtteil Južnoe Butovo eine knappe Metrostunde entfernt. Gefühlt ist es eine Zeitreise.
Es ist ein aufklärerisches Projekt, ein didaktisches. Der Kantsche Weg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Künstler oder Einwohner, wer klärt hier wen auf? Die Vektoren zeigen in beide Richtungen, und das ist auch gut so. Was passiert beim Zusammentreffen der Bewohner der Peripherie Moskaus mit zeitgenössischer Kunst? Und anders herum – Was hat dieser Stadtraum und seine noch junge Geschichte an Themen und Inspirationen für die Künstler zu bieten? Wie funktioniert überhaupt das Leben hier in der Trabantenstadt? Hier werden keine neuen Fronten aufgemacht, hier gibt es gemeinsame Interessen: der Kampf der Bewohner der Schlafstadt gegen die Tristesse der Peripherie und für das Recht auf kulturelle und ästhetische Entfaltung, und der Kampf der zeitgenössischen Künstler gegen den traurigen Akademismus, in den sich das Anliegen der Peredvižniki verwandelt hat.
Mithilfe von 16 im Park aufgestellten Baustellencontainern und weiteren Skulpturen wird ein provisorisches Zentrum für zeitgenössische Kunst „Južnoe Butovo“ inszeniert. Dabei verwandeln sich die Künstler in GastARTbeiter. Die Rolle und Lage der Gastarbeiter beim Bau der Wohnstadt wird im Projekt reflektiert und ironisch mit der Situation der Künstler hier „in der Fremde“ assoziiert, während aus dem Stadtbezirk in ein utopisches „Budtovo“ (von russ. „budto“ – „als ob“) wird. Die Projekte der beteiligten Künstler sprechen eine klare Sprache, die auch dem unbewaffneten Auge viele Anknüpfungsmöglichkeiten an die eigene Lebens- und Erfahrungswelt bietet. Das ist vor allem an der lebhaften und unvoreingenommenen Besitznahme des „Dom chudožnika“ („Haus des Künstlers“) durch die Kinder der Umgebung deutlich geworden.
Igrodom (Spielhaus): Die Studierenden der „Werkstatt für experimentelles studentisches Projektieren“ am Moskauer Architekturinstitut widmeten sich unter der Leitung der Lehrenden Evgenij Ass, Nikita Tokarev und Kirill Ass dem alten philosophischen Problem von Form und Funktion am Beispiel der Projektierung eines Hauses, welches als Spiel-, Kunst- und Experimentierhaus für Heranwachsende fungieren soll.
Einige in der Werkstatt entstandene Modelle sind hier ausgestellt. Welch dringendes Desideratum von den Architekten formuliert wurde, wird am Ausstellungsprojekt „Dom chudožnika“ (Haus des Künstlers) selbst auch deutlich, dessen Container und Skulpturen von den Jugendlichen der Umgebung wie selbstverständlich in Besitz genommen wurden.
Gruppe "sinie nosy" („Blaue Nasen“, Vjačeslav Mizin und Aleksandr Šaburov) "Razve tol'ko kofe, a Winston?" („Was, etwa nur Kaffee? Und Winston?“): Die auch in Deutschland bekannte Gruppe „Blaue Nasen“ zeigt in einem als Pausenküche ausgestatteten Baustellencontainer eine Auswahl von Fotografien aus der Serie "Razve ja pochož na neudačnika?" („Sehe ich etwa aus wie ein Verlierer?“). Als Pin-ups hängen wahlweise muskelbepackte oder schmerbäuchige Männer an den Wänden, der parodistische und selbstironische Gestus der Bilder korrespondiert wunderbar mit dem respektlosen Baustellenjargon, den man hier förmlich zu hören meint.
Postproduction: Gleich zwei Werke befassen sich mit der utopischen Dimension der postalischen Kommunikation und gewährleisten gleichzeitig den inhaltlichen Anschluss an das Hauptprojekt der Biennale „Perepisyvaja miry/Rewriting the Worlds“: in der "počtovoe otdelenie Doma Chudožnika" ("Abteilung Post des Künstlerhauses") stapeln sich die Sendungen in die und aus den renommiertesten Museen der Welt (Olga und Oleg Tatarinzevy)…
… während der Künstler Vladimir Potapov mit seinem Briefkasten "počti Rossija" („fast Russland“) anstelle von "počta Rossii" („Post Russland“) die Utopie in einem minimalinvasiven Kunstgriff schon realisiert hat.
Michail Pogarskij, Igor' Ioganson, Gerasim Kuznecov "biblioteka stroitelja" („Die mobile Bauarbeiterbibliothek“): Dies ist eine Bibliothek mit revolutionärem Potenzial: natürlich geht mir sofort die Brechtsche Frage des lesenden Arbeiters durch den Kopf: „Wer erbaute das siebentorige Theben?“
Der Kumpel scheint noch dazu mit dem Schneidemesser anstelle der Feder in der Hand den Bitterfelder Weg entlang geschritten zu sein: "nadoelo" („mir reicht es“) oder "žit' nado snova" („man sollte das Leben von vorn beginnen“) sind Zeugnisse einer Poesie der Ehrlichkeit, bemalte und beschriebene Eimer und Schaufeln zeugen von den „wachsenden künstlerisch-ästhetischen Bedürfnissen der Werktätigen“.
Maria und Nataša Arendt, Margarita Novikova "linija svjazi" („Verbindungslinie“): Die Assonanz Leine/Linie funktioniert nur in der deutschen Sprache, und doch trifft sie den Kern der Sache: diese wunderbar interaktive Installation entsteht erst im Laufe der Ausstellung durch die Besucher: der Aufforderung, einen Wunsch auf einen Zettel zu schreiben, gefaltet in eine Socke zu stecken und diese auf die Leine zu hängen, sind viele nachgekommen.
Es muss an dem Versprechen liegen, dass sich die Wünsche erfüllen werden, oder ganz einfach am niedrigschwelligen Interaktionsangebot der Künstlerinnen. Und wieder wird das Erfolgsgeheimnis der von Zvjaginceva und Samodurov ausgewählten Kunstwerke ein bisschen klarer: eine bestechend treffende metaphorische Verschiebung, ästhetisiert mit Wiedererkennungseffekt – wem kommt das Bild der im Wind wehenden Socken zwischen Hochhäusern nicht in den Sinn, wenn er an neu errichtete Schlafstädte denkt?
Žanna Rybak, Maša Iv "illjuzija uedinennosti" („Illusion der Abgeschiedenheit“): Am Ende eines begehbaren Labyrinths aus alten Fenstern steht in der Ecke ein Stuhl. Auch hier ist die zugrunde liegende Metaphorik nicht weiter schwierig (Wohnstadt als Labyrinth aus Häusern, Fehlen von Intimsphäre und individuell gestaltbarem Raum), als ästhetische Erfahrung beim Hindurchgehen durch das Labyrinth stellt sich jedoch ein verblüffend theatralischer und einnehmender Effekt ein.
Sergej und Tatjana Kostrikovy "inkubator s jajcami ŽBM / jačejka obščestva" („Inkubator für LBM-Eier / Keimzellen der Gesellschaft“): LBM steht für „lebende biologische Modelle“. Im Inkubator sind Eier von 90 Organisationen bzw. Einheiten der russischen Zivilgesellschaft vertreten.
Nach deren Schlüpfen sollen Beobachtungen an einem Gesellschaftsmodell möglich sein: Wer wird untergehen, wer wird koalieren, opponieren, regieren und im Verteilungskampf die Nase vorn haben? Die biologistische Denkweise im Versuchsaufbau wird von der Auswahl der gesellschaftlich relevanten Strömungen wohltuend konterkariert, und so versucht sich der Betrachter vorzustellen, was passiert, wenn „Ignoranten“ und „Konzeptualisten“ miteinander um Futter konkurrieren, während das Aufeinandertreffen von "sexuellen Minderheiten" und Anhängern der Bewegung „Naši“ ein sattsam bekanntes und medial immer wieder kolportiertes Stereotyp darstellt.
German Vinogradov "Muzykal'nye instrumenty akademii BIKAPO" („Musikinstrumente der Akademie BIKAPO“): Eine für den Klangkünstler, Musiker und Performancekünstler Vinogradov ungewöhnlich zurückhaltende Klanginstallation aus Kupferrohren wird mit einer Ausstellung von Kinderzeichnungen kontrastiert (Künstlerin ist die vierjährige Tochter Vinogradovs Dada Vasilisa Vinogradova).
So klingt die Audioinstallation German Winogradows „Musikinstrumente der Akademie BIKAPO“ (1:30 min, ≈1 MB, Format mp3):
HIER klicken
Das harmonische Schweben und Klingen der Rohre und die ausufernde kindliche Bildproduktion sprechen von Freiheit und Raum zur Entfaltung, die Rollen von Künstler und Kind sind dabei ausdrücklich nicht festgelegt.
Im Objekt "kolokol rebenka" („Kinderglocke“) von Lecha Garikovič wird ebenso optisch wie akustisch das Fehlen eines solchen Raumes thematisiert: das kleine Karussell ist von Mauern umgeben, die einen dumpfen Ton erzeugen, wenn das eiserne Gestell dagegen schlägt…
Unter anderem von Konstantin Zvezdočetov in naiver Weise gemalte Häuser werden in der Immobilienagentur "zolotaja osen'" („Goldener Herbst“) angeboten, oder verschwommene Fotografien wie ferne Träume … Wenn die gewinnträchtige Umwandlung von Acker- in Bauland, die dem Siedlungsbau gewöhnlich vorangeht, die „Fünfte Fruchtfolge“ genannt wird, so findet mit der ästhetischen Aneignung dieses Nun-Stadt-Raumes wohl schon Wertschöpfung im Rahmen der „Sechsten Fruchtfolge“ statt.
Neben den Containerensembles sind weitere Skulpturen und Objekte im Park aufgestellt. Sehr eigenständig und gelungen ist "vychod" („Ausgang“) von Marina Zvjaginceva: eine offene Tür lädt dazu ein, einzutreten und mit sich allein zu sein – auf einem Floß im Teich. „Ausgang“ als eine Einladung zum Abschalten, raus aus einer Welt des Produzierens hinein in eine Welt des Innehaltens – wobei diesem esoterischen Angebot in einer erst kürzlich angelegten Parklandschaft ohne jegliche Romantik und Abgeschiedenheit unter einer Beton-Fertigteilbrücke das Scheitern oder zumindest die Lächerlichkeit schon mit eingeschrieben ist … Foto: Julia Fertig
Etwas sperriger in der Wahrnehmung ist das Beet, in dem aus Betonblöcken Schaufeln und Arbeit wachsen - "slava trudu" („Ruhm der Arbeit“) nennt Viktor Lukin sein Objekt.
Die Installation „Ruhm der Arbeit“ korrespondiert sehr schön mit der Skulptur "pravo na trud" („Recht auf Arbeit“), dem Denkmal für die unbekannten Bauarbeiter, welches der Künstler Sergej Černov in Anlehnung an Vera Muchinas berühmten Koloss "rabotnik i kolchoznica" („Arbeiter und Bäuerin“) geschaffen und sich damit direkt in eine Motivgeschichte eingeschrieben hat.
Auch die Bewohner der Trabantenstadt sind virtuell in einem Objekt repräsentiert…
Gefällt mir Wird geladen …
Ähnliche Beiträge
Schlagwörter: Jurij Samodurov, Juznoe Butovo, Marina Zvjaginceva, Schlafstadt, Spalnyj Rajon
This entry was posted on November 14, 2011 at 6:13 pm and is filed under Ausstellungen, Bilder, Spaziergänge. You can follow any responses to this entry through the RSS 2.0 feed.
You can leave a response, or trackback from your own site.
März 14, 2022 um 1:28 pm |
[…] Zum Nachlesen empfiehlt sich auch Julia Fertigs ausführlicher Bericht zu diesem Projekt (samt Bildergalerie) „Auf nach ArMKADien. Public Art in der Trabantenstadt?“. […]